Hintergrund

 Am 5. März 2021 fand das 3. Webseminar der DNGK-Arbeitsgruppe Nachwuchsförderung zum Thema “Forschung in Zeiten von COVID-19 – Herausforderungen und Lösungsansätze“ statt.

Das Webseminar richtete sich primär an Promovierende und Studierende Nachwuchswissenschaftler*innen aus den Bereichen Public Health, Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaften, Medizin, Psychologie, Gesundheitskommunikation, Gesundheitspädagogik, Sprach- oder Übersetzungswissenschaft, Versorgungsforschung und vergleichbaren Fachrichtungen.

Durch die COVID-19-Pandemie sehen sich viele Nachwuchsforscher*innen in ihrem wissenschaftlichen Arbeiten vor bisher ungeahnten Herausforderungen. Die Erreichbarkeit vulnerabler Gruppen oder aber die Frage nach der Repräsentativität der eigenen Datensätze, müssen häufig vor gänzlich neuen Bedingungen verhandelt werden. Vor diesem Hintergrund ergab sich der Anspruch, ein Webseminar zu konzipieren, welches sowohl forschungsmethodisch-/ konzeptionelle als auch forschungsethisch-/datenschutzrechtliche Aspekte aufgriff und somit lösungsorientiert auf die aktuelle Problemlage von Nachwuchswissenschaftler*innen abzielte.

Seminarbericht

Forschung in Zeiten von COVID-19 – Herausforderungen & Lösungsansätze

Am 05. März 2021 fand das Webseminar zum Thema “Forschung in Zeiten von COVID-19 – Herausforderungen und Lösungsansätze“ statt. Das neunzigminütige Seminar wurde von der Arbeitsgruppe Nachwuchsförderung des DNGK über die Plattform Zoom ausgerichtet und fand mit 60 Teilnehmenden großen Anklang.

Eröffnet wurde die Veranstaltung durch Janine Michele, Sprecherin der DNGK-Arbeitsgruppe Nachwuchsförderung. Unter dem Motto „Wer wir sind und was uns motiviert“ stellte sie die im November 2020 gegründete AG vor und verdeutlichte in ihrer Einführung die allumfassende Gegenwärtigkeit der pandemischen Lage in unser aller Forschungsalltag.

Auch Corinna Schaefer wandte sich in ihrer Funktion als Vorsitzende des DNGK mit begrüßenden Worten an das Plenum und lud herzlich dazu ein, Mitglied im DNGK und den verschiedenen Arbeitsgruppen des Netzwerks zu werden.

Karin Drixler, stellvertretende Sprecherin der AG Nachwuchsförderung, leitete durch die Veranstaltung – gespannt auf die drei Impulsvorträge und den abschließenden Multiperspektiven-Austausch.

Impulsvorträge

Auswirkung auf qualitative Forschung

Den Auftakt machte Prof.’in Dr. Dr. Saskia Jünger (Professorin für Forschungsmethoden im Kontext Gesundheit – Hochschule für Gesundheit/Department of Community Health, Bochum) mit einem Einblick in die Auswirkungen der COVID-Pandemie auf qualitative Forschungsansätze und deren Umsetzung in der Praxis. Dabei versteht sie sich als Sammlerin von Informationen im Austausch mit zahlreichen Kolleg*innen, in einem Feld, indem wir alle noch gemeinsam dazulernen.

Verschiebungen, Fristsetzungen, fehlende Planbarkeit und ein erheblicher bürokratischer Mehraufwand sind allgemeine Folgen der Pandemie für Forschungsprojekte. Im Vortrag beleuchtete Frau Jünger die Auswirkungen auf die qualitative Forschung aus vier Perspektiven.

Qualitative Forschung kann auch anders als Face-to-Face erfolgen!
Qualitative Forschungsmethoden sind oftmals von viel persönlichem Kontakt gekennzeichnet, z. B. in Form von Fokusgruppen und Interviews, weshalb die Maßnahmen zur Kontaktreduktion direkte Auswirkungen auf die angewendeten Methoden im Forschungsbereich haben. Ein Blick auf die Definition nach von Kardorff (1995) zeigt, dass qualitative Forschung auch anders als Face-to-Face erfolgen kann. Frau Jünger ermutigte dazu, den digitalen Raum zu erkunden und weitere Formen der Datenerhebung in den Blick zu nehmen. Dabei ging sie bspw. auf verschiedene Möglichkeiten synchroner und asynchroner Erhebungsmethoden ein.

Der Feldzugang muss im digitalen Raum anders gedacht werden!
Aus der ermutigenden Perspektive, dass auch die digitale Landschaft real ist, resultieren speziell in der qualitativen Forschung offene Fragen und Erfordernisse aus der Pandemie: Wie kann gute digitale Kommunikation gelingen?

Wir Forschende, so Frau Jünger, sollten auch den digitalen Raum als ethnographisches Forschungsfeld betrachten und dabei die eigene Rolle sowie die neuen Gegebenheiten reflektieren:

  • Wie wirken sich Kommunikationsformen auf die Narrative aus?
  • Wie gestalten sich Anonymität und Intimität?
  • Wen schließen wir systematisch aus?
  • Welche Rolle spielen datenschutzrechtliche Aspekte?

Es fehlen die interessanten Kaffeegespräche!
Bei allen Möglichkeiten, die uns der digitale Raum bietet, bleiben einige Herausforderungen und Risiken bestehen. Eine (angenehme) Atmosphäre oder der Netzwerkcharakter einiger Formate kann im Digitalen nur begrenzt erreicht werden. Auch die Wahrnehmung mit allen Sinnen ist für Forschende und Interviewteilnehmende nicht gegeben. Ein wichtiger Aspekt ist außerdem die Verstärkung von bestehenden Ungleichheiten, bedingt durch unterschiedliche Zugangs- und Erreichbarkeitsvoraussetzungen, die mit den Kontaktbeschränkungen und Hygienevoraussetzungen im Rahmen der Pandemie im besonderen Maße einhergehen.

Ist die qualitative Forschung in der Krise?
Frau Jünger geht der Frage nach, welche Bedeutung die derzeitige Lage für die qualitative Forschungscommunity hat und führte den Gedanken an, dass die Priorisierung von Forschung mit COVID-19-Bezug und die „Zahlenfixierung“ während der Pandemie die Gefahr mit sich bringen, dass qualitative Forschung in den Hintergrund rücken könnte. Sie nimmt wahr, dass das qualitative Erleben der Menschen und die qualitativen Zugänge derzeit verstärkt an den Rand gedrängt werden. Dabei sollte die Systemrelevanz der qualitativen Forschung nicht in Frage gestellt werden.

Folgen für die zukünftige methodische Argumentation im Sinne „analoger“ Forschung!
Auch mögliche Folgen der aktuellen Lösungsstrategien für die qualitative Forschung nach der Krise wurden in den Blick genommen. So wurde die Frage nach der zukünftigen Verteilung von Fördergeldern (z. B. im Hinblick auf Reisekosten für Präsenzveranstaltungen) oder der Etablierung neuer Hygienestandards gestellt sowie deren Auswirkungen auf die zukünftige Feldforschung.

Auswirkung auf quantitative Forschung

Im Anschluss an den spannenden Beitrag zur qualitativen Forschung beleuchtete Dr. Henning Silber (Leiter des Survey Operations Teams, GESIS – Leibniz Institute for the Social Sciences) die Herausforderung der Planung, Umsetzung und Evaluation quantitativer Forschungsdesigns unter Pandemiebedingungen. Er beleuchtete die Situation aus Sicht der Sozialforschung und eigener Erfahrungen im Rahmen seiner Arbeit im GESIS-Institut.

In seinem Vortrag thematisierte er quantitative Datenerhebungstechniken, die Auswirkungen der Pandemie in Bezug auf GESIS-Umfrageprogramme, die Repräsentativität verschiedener Erhebungsmethoden sowie Lösungsansätze und Datenbedarfe.

Die Pandemie hat insbesondere Auswirkungen auf die reaktive Forschung!
Im Rahmen verschiedener Modi von Befragungen und Beobachtungen zeigen sich auch hier, ebenso wie im Rahmen der qualitativen Forschung, Auswirkungen auf Ebene persönlicher Befragungen. Herr Silber präsentierte einen Vergleich verschiedener Befragungsmodi im Zeitverlauf von 2000 bis 2019 aus den Jahresberichten der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute. Daraus geht hervor, dass Onlinebefragungen im Jahre 2000 nur einen unerheblichen Marktanteil abbildeten, während 2019 diese Befragungsform bereits den wichtigsten Modus ausmachte. Spannend wird die noch ausstehende Abbildung der Entwicklung für das Jahr 2020 in Bezug auf das Verhältnis von Telefonbefragungen und Onlinesurveys. Für die persönlichen Befragungen wird in Anbetracht der pandemischen Lage ein weiterer Rückgang erwartet.

Er erläuterte, dass dies jedoch der wichtigste Erhebungsmodus für die GESIS-Befragungen ist, von denen ein Großteil eine persönliche Befragungskomponente beinhaltet und somit stark von den Auswirkungen der Pandemie betroffen ist.

Das Ausweichen auf eine Quotenauswahl ist eigentlich keine Alternative!
Herr Silber führte vier Lösungsansätze für die besonders belasteten Großstudien auf, um jeweils auf die aktuellen Bedingungen der pandemischen Lage eingehen zu können.

Neben einer Verschiebung der Datenerhebung sieht er zum einen die Möglichkeit den Erhebungsmodus zu wechseln (telefonisch und/oder schriftlich und/oder online) und zum anderen verwies er auf Vor- und Nachteile einer Quoten- oder Zufallsauswahl. Er führte an, dass im Rahmen von Onlineumfragen derzeit häufig eine Quotenauswahl vorgenommen wird und hob hervor, dass eine statistische Repräsentativität jedoch nur durch Zufallsstichproben gewährleistet werden kann, mit welcher eine Berechnung von Konfidenzintervallen möglich wird.

Günstige Publikationsbedingungen für die Wissenschaft!
Für kleinere Projekte, die häufig keine Zufallsauswahl vorgesehen haben, beschrieb er eine größere Flexibilität in der Anpassung des Forschungsdesigns, insbesondere im Hinblick auf Online-Befragungen. Bspw. führte er die Rekrutierung über Social-Media-Kanäle (Facebook, Instagram) an und die im Rahmen der Pandemie verstärkte Möglichkeit, entsprechende Drittmittelanträge zu stellen oder in Special Issues zu publizieren.

Wir brauchen insbesondere Längsschnitt- und international vergleichende Daten!
Um Veränderungen in Bezug auf Einstellungen und Verhaltensweisen vor-, während und nach der COVID-19 Pandemie beobachten zu können, stellte Herr Silber die Erhebung von Längsschnittdaten als besonderen Datenbedarf heraus. Auch die Kombination von verschiedenen Methoden hob er für die multiperspektivische Beleuchtung sozialer Tatbestände hervor.

Ferner, so schloss er ab, sollten vor dem Hintergrund der globalen pandemischen Herausforderung vor allem auch international vergleichenden Daten erhoben werden.

Forschungsethische und datenschutzrechtliche Herausforderungen

Im dritten Themenblock des Seminars beleuchtete Dr.’in Eva-Maria Berens (Wissenschaftliche Leitung der Geschäftsstelle der Ethikkommission Bielefeld; Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld) die Auswirkungen, die im Rahmen von Forschungsprozessen auf der Ebene von Forschungsethik und Datenschutz auftreten.

Sie verwies dabei auf die vielfältige Landschaft an Ethikkommissionen und die guten Gründe für eine ethische Begutachtung von Forschungsvorhaben. So führte sie bspw. die Publikationsrichtlinien sowie Vorgaben vieler Journals und Forschungsförderer an.

Was ist die Aufgabe einer Ethikkommission?
Eine Ethikkommission setzt sich aus Wissenschaftler*innen verschiedener Fachrichtungen zusammen. Diese prüfen und geben Stellungnahmen zu Forschungsvorhaben im Hinblick auf ethische Aspekte ab. Berücksichtigt werden insbesondere Aspekte wie die Vorkehrungen zur Minimierung des Risikos für die Studienteilnehmer*innen, das Verhältnis von Nutzen und Risiko des Vorhabens, die Qualität der Studienmaterialen zu Aufklärungs- und Einwilligungszwecken sowie (datenschutz-)rechtliche Aspekte.

Antragsstopp zu Beginn der Pandemie!
Innerhalb der nicht-medizinischen Ethikkommission zeichnete sich zu Beginn der Pandemie ein Rückgang an Ethikanträgen aus den Bereichen der Psychologie, Gesundheitswissenschaften, Linguistik und Erziehungswissenschaften ab. Dies wird im Zusammenhang mit der dort häufig verankerten persönlichen Interaktion mit Proband*innen gesehen.

Frau Berens erläuterte, dass auf Seiten der Forschenden in dieser Phase eine große Verunsicherung in Bezug auf die Wahl des Feldzugangs vorherrschte, welcher bereits in den beiden vorangegangen Vorträgen diskutiert wurde.

Lessons-Learned – Mit neuen Strategien folgte eine Welle von Änderungsanträgen!
Nach einer ersten Orientierungsphase wurden neue Strategien entwickelt, bspw. im Sinne von Hygienekonzepten und der Verwendung digitaler Kanäle, wodurch ein Aufschwung in Bezug auf die Antragstellung erfolgte. Es wurden jedoch nicht nur neue Ethikanträge eingereicht, sondern vermehrt Änderungsanträge gestellt, um das ursprüngliche Forschungsdesign den neuen Gegebenheiten anzupassen.

COVID-19 hat die Digitalisierung in der Forschung angeschoben!
Von Seiten der Ethikkommission wurden zwei große Herausforderungen festgestellt, welche den Bereich Ethik- und Datenschutz berühren. Unabhängig von der Forschungsmethode müssen Hygienekonzepte und Regeln zu Kontaktbeschränkungen beachtet werden, was meist zu einer Veränderung des Forschungsdesigns führt. Sowohl in der qualitativen als auch in der quantitativen Forschung wechselten und wechseln die Forschungsvorhaben vor allem von persönlichen Erhebungen hin zu digitalen Alternativen.

Durch diese Anpassungen werden einige Inhalte komplexer, auch im Hinblick auf die Überarbeitung von Aufklärungsmaterialien und Datenschutzkonzepten.

Daten bestimmen die Art der Nutzung von Kommunikationsdiensten!
Frau Berens beschrieb, dass im Rahmen der pandemischen Lage das klassische Face-to-Face Interview meist auf den digitalen Raum in Form einer Videokonferenz übertragen wird und damit häufig die Frage nach einer geeigneten Plattform in Verbindung steht. Es gibt eine Vielzahl von Kommunikationsdiensten, welche jedoch immer anhand der zu erhebenden Daten ausgewählt werden müssen. Sie hob hervor, dass nicht alle Dienste für die Übermittlung besonders sensibler Daten geeignet sind, welche insbesondere im Rahmen der Gesundheitskompetenzforschung erhoben werden.

Eine Ende-zu-Ende Verschlüsselung gewährleistet eine stärkere Sicherheit, bringt jedoch forschungsethische Konsequenzen mit sich. Sie stellte explizit heraus, dass kritisch zu reflektieren ist, ob diese Lösung, vor dem Hintergrund der digitalen Kompetenzen von Nutzer*innen des jeweiligen Forschungsfeldes, in der Forschungspraxis umsetzbar ist.

Aber auch die Anforderungen an Forschende werden komplexer, denn sie müssen die Dateninfrastruktur kennen. Frau Berens beendete ihren Vortrag mit dem Hinweis, dass diesbezüglich die Unterstützung der Universitäten derzeit noch ausbaufähig erscheint.

Abschlussdiskussion und Fazit

Im Anschluss an die vielschichtigen und spannenden Beiträge zu den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf die verschiedenen Bereiche der Forschung, moderierte Janine Michele einen Multiperspektiven-Austausch zwischen den Vortragenden und Teilnehmenden des Webseminars.

Faktenbox – Was haben wir voneinander mitnehmen können?

  • „Corona-Brennglas-Effekt“: Die diskutierten Herausforderungen sind nicht unbedingt neu, aber betreffen im Rahmen der Pandemie deutlich mehr Forschende.
  • Der Umgang mit Planungsunsicherheit erfordert eine hohe Flexibilität, sowohl im Rahmen qualitativer als auch quantitativer Forschung.
  • Aufklärungs- und Datenprozesse sind grundlegend komplexer.
  • Ethische Bestimmungen stehen teilweise im Widerspruch zum niederschwelligen Zugang zu benachteiligten Probandengruppen, sind derzeit nur mit sehr großem Aufwand zu überwinden und müssen weiter vor dem Hintergrund der „digitalen Kluft“ kritisch diskutiert werden.
  • Auch in der Pandemie liegen Chancen für die Wissenschaft, sich weiterzuentwickeln.
  • Wir lernen alle am besten gemeinsam! Erfahrungen und Erkenntnisse sollten innerhalb der Forschungscommunity geteilt werden.

Dank!
Wir blicken auf eine erfolgreiche und informative Veranstaltung zurück, freuen uns über die rege Teilnahme und möchten uns recht herzlich bei Frau Prof.’in Dr. Dr. Saskia Jünger, Herrn Dr. Henning Silber und Frau Dr.’in Eva-Maria Berens für ihre wertvollen Beiträge bedanken.

Ebenso richten wir unseren Dank an alle Teilnehmenden für ihr Interesse und die eingebrachten Fragen.

Nicht zuletzt möchten wir uns beim Vorstand des DNGK dafür bedanken, dass wir dieses Webseminar ausrichten durften und bei Frau Susanne Kaffka für die Unterstützung bei der Veranstaltungsorganisation.

Letzte Überarbeitung: 26.08.2022